Rentier gesucht
Jeder weiß und wird wohl ohne zu zögern einsehen, dass der
Weihnachtsmann Rentiere braucht. Wie sollte er auch sonst,
ganz alleine die Geschenke an die vielen, braven Kinder auf
der ganzen Welt verteilen? Der vollbeladene Schlitten war
schon immer viel zu schwer, als dass ihn der Weihnachtsmann
hätte alleine ziehen können. Um genau zu sein, braucht er
acht Rentiere. Wovon mindestens eines Rudolf heißen und eine
rote Nase haben muss, versteht sich.
Doch woher kommen die Rentiere des Weihnachtsmannes?
Schlüpfen sie aus Eiern und der Weihnachtsmann zieht sie
selbst auf? Nein, dafür hat der Weihnachtsmann viel zu viel
damit zu tun. Bauen die fleißigen Wichtel die Rentiere
zusammen? Nein, auch das nicht. Die Wichtel sind das ganze
Jahr über damit beschäftigt Eisenbahnen, Puppenwagen,
Hubschrauber und was man sich sonst noch so an tollen
Geschenken vorstellen kann, zu basteln. Rentiere haben eine
Mama und einen Papa, wie jedes Kind. Wenn sie groß genug
sind, dann kann es ihnen passieren, dass sie einer Waldfee
begegnen. Die Rentiere des Weihnachtsmannes wurden schon
immer von den Waldfeen ausgebildet. Die Waldfeen sind ein
lustiges Völkchen, dass nichts mehr liebt, als Späße zu
machen und die Leckereien der Weihnachtszeit. Daher
verwundert es auch nicht sehr, dass, wenn ein Duft von
frisch gebackenen Keksen in der Luft liegt, die Rentiere
sich so leicht in die Luft erheben, wie ein Vogel am ersten
Frühlingstag.
Nun. Eines Jahres passierte es, dass der Dezember viel zu
warm und zudem noch verregnet war. Rentiere mögen lieber den
Schnee, als den Regen und darum holte sich eines von ihnen
einen furchtbaren Schnupfen. Als sich der Weihnachtsabend
nährte und die Geschenke schon bereitlagen, war Donder, das
Rentier, krank geworden. Die anderen Rentiere halfen dabei,
den Schlitten zu beladen.
„Hatschi“, Donder hob ein paar Zentimeter vom Boden ab
und als er wieder landete, bebte der ganze Stall. Ein
Geschirr, das an der hölzernen Wand hing viel scheppernd
zu Boden.
Zwerg Hanhu sah besorgt und mitfühlend zu dem Tier und
streichelte es sanft.
Er war für die Versorgung der Rentiere zuständig und
wann immer eines von ihnen krank war, so war auch er krank.
Denn er war so sehr mit den Rentieren befreundet, dass alles
was ihnen passierte, auch ihn traf.
„Oh nein. Wieso musstest du unbedingt heute krank
werden? Du weist doch, wie schwer es ist, ein Ersatzrentier
aufzutreiben. Erst recht einen Tag vor Weihnachten.“
„Ich kann doch nichts dafür. Ich habe es mir nicht
ausgesucht“, antwortete ihm Donder in der Sprache der
Rentiere, „Hatschi!“, wieder bebte der Stall.
Der Zwerg war nicht von gestern. Er holte sein Handy
heraus und wählte die Nummer der Feen.
„Vielleicht leuchtet ja der Glücksstern für uns.“
Es klingelte. Hanhu sah nach rechts zu dem Haufen Heu.
Es klingelte ein zweites Mal. Er sah zu einem Wassereimer.
Es klingelte ein drittes Mal. Der Zwerg verdrehte die Augen
und sah zu einem Holzbalken unter der Decke.
Die Waldfeen waren ein fleißiges Völkchen, aber einmal
im Jahr, kurz vor Weihnachten bis zum Ende des Jahres,
nahmen sie Urlaub und nichts und niemand konnte sie davon
abhalten. Außer vielleicht ein Kind, dass ihrer Hilfe
bedurfte.
Hanhu wollte gerade wieder auflegen, als sich eine
freundliche Stimme meldete: „Ja Waldfee Svenja hier?“
Dem Zwerg fiel ein Stein oder besser gesagt ein Felsen,
vom Herzen, „Ach bin ich froh, dass ihr noch da seid gute
Waldfee. Ich brauche dringend ein Rentier für den Schlitten
des Weihnachtsmannes.“
„Oh, das tut mir leid“, die Stimme der Fee klang
mitfühlend, „ich habe gerade heute Morgen das letzte auf
den Weg zum Osterhasen geschickt.“
„Ein Rentier beim Osterhasen?“, Hanhu sah ungläubig zu
Donder.
„Wir sind halt sehr beliebt“, meinte das Rentier, ehe
es ein weiteres Mal nieste.
„Aber wie soll der Weihnachtsmann all die Geschenke
ausliefern, wenn ihm ein Rentier für seinen Schlitten fehlt?“
„Da wird sich bestimmt etwas finden. Aber ich muss jetzt
los, mein Zug nach Lummerland fährt gleich ab.“
Der Zwerg steckte sein Handy wieder in die Hosentasche
und lies die Schultern hängen.
„Was mache ich denn jetzt?“, fragte er sich und sah zu
Boden.
Fast schien es ihm, als ob es keine Hoffnung mehr gebe.
Würde es dieses Jahr keine Geschenke vom Weihnachtsmann
geben? Sollten all die kleinen und großen Kinder vor
Tannenbäumen sitzen und darunter nichts als
heruntergefallene Nadeln finden?
Plötzlich, wie es halt immer passiert, wenn man gerade in
Not ist und sich in der Gesellschaft von Fabelwesen
befindet, klopfte es an die Tür. Hanhu hoffte, es wäre
nicht der Weihnachtsmann. Hanhu hätte ihm ungern erklärt,
dass es ein Rentier zu wenig gab, um den Schlitten zu
benutzen. Der Zwerg öffnete die Tür.
„Guten Tag. Ich habe gehört, sie suchen ein Rentier“,
ein Mann mit langem Mantel, schneebedeckter Mütze und einem
roten Lederkoffer stand im Eingang.
Hanhu nickte überrascht. Woher wusste der Mann das?
Hatte ihn Fee Svenja geschickt?
„Dann habe ich genau das richtige für sie. Das absolut
neuste und fortschrittlichste der modernen Zauberkunst. Sie
werden begeistert sein.“
Hanhu war enttäuscht. So wie der Mann redete, wollte er
nur etwas verkaufen. Aber er wusste, was der Weihnachtsmann
davon halten würde, also sagte er: „Tut mir leid. Der
Weihnachtsmann kauft nichts an der Tür. Er bestellt über das
Internet.“
Er wollte schon die Tür wieder schließen, doch Heinrich
ließ sich dadurch nicht beeindrucken und stellte seinen Fuß
in die Tür.
„Aber warten sie doch Herr Zwerg. Ich habe hier das non
plus Ultra. Eine Rentierfertigmischung. So etwas gehört in
jeden gut sortierten Weihnachtsmannhaushalt.“
Hanhu war skeptisch und ebenso Donder, der dies durch
ein Niesen betonte.
Heinrich wusste ganz genau, dass nur brave Leute
Geschenke bekommen. Da er bisher nicht sehr brav gewesen
war, hoffte er, vielleicht doch noch etwas zu Weihnachten
zu bekommen, wenn er selbst etwas verschenkte. So sagte er:
„Weil es so kurz vor Weihnachten ist, schenke ich ihnen
auch eine Packung.“
Der Zwerg nahm eine kleine Schachtel entgegen und
bedankte sich. Er betrachtete sie von allen Seiten und las
laut vor: „Rentier Fertigteigmischung. Einfach Wasser
hinzugießen und ein paar Sekunden warten.“
Er sah zu Heinrich, dieser reichte ihm noch seine Karte
und verabschiedete sich. Hanhu sah zu Donder und zuckte mit
den Schultern.
„Es auszuprobieren kann wohl nicht schaden.“
Der Zwerg legte die Packung auf den Boden und ging zu
einem Wassertrog. Er füllte dort seine Mütze und goss das
Wasser über der Packung aus. Schachtel und Boden wurden
nass, doch weiter passierte nichts.
„Dachte ich mir doch, dass es nicht funktioniert. Dann
muss ich dem Weihnachtsmann wohl die schlechte Nachricht
überbringen.“
Hanhu wollte zur Tür gehen, doch mit einem Mal blähte
sich die Mischung auf und nahm die Form eines Rentieres an.
Der Zwerg staunte nicht schlecht. Ja, es war zweifellos
alles daran, was zu einem Rentier gehörte. Die kräftigen
Hufe, das große Geweih und die dicke Knollennase. Auch die
Größe stimmte und Rentiere sind wahrlich nicht klein. Nur
eines stimmte nicht. Das Rentier war platt und glitzerte
goldgelb. Es war ein riesiger Keks.
„Ein Freund zum Knabbern“, freute sich Donder.
„Aber kein Rentier, so wie du. Es kann weder einen
Schlitten ziehen, noch durch die Lüfte fliegen“, auch der
Duft des frisch gebackenen Kekses tröstete Hanhu nicht.
Plötzlich ging das Tor zum Stall auf und ein großes,
schneeweißes Pferd trat ein. Seine Stirn zierte ein langes
Horn.
„Hat mich meine Nase also nicht getäuscht. Es gibt hier
einen Keks, der noch nicht in einem Säckchen auf dem
Schlitten ruht. Sagt Herr Zwerg, darf ich wohl meinen
leeren Magen mit einem Bissen füllen?“
„Ja. Komm nur rein und iss ein Stück vom Keks. Es ist
genug für alle da“, sagte Hanhu und setzte sich. Einhorn,
Rentier und Zwerg teilten sich den Keks und das Einhorn
erzählte von seinem zauberhaften Weg durch den Wald. Als
vom Keks kein Krümel mehr übrig war, sagte Hanhu zu dem
Einhorn; „Du bist sehr nett. Schade nur, dass du kein
Rentier bist.“
„Ich mag vielleicht kein Rentier sein. Doch bin ich ein
Einhorn und kann mich in jedes Tier verwandeln, wenn ich es
will. Und ich glaube, ich will für dich ein Rentier sein.“
Hanhu sah strahlend zu dem Einhorn, blickte die Packung
der Rentier-Fertigmischung an und rief: „Ich wusste, das es
funktionieren wird.“
Am Tag darauf saß der Weihnachtsmann auf seinem Schlitten
und reif:
„Los Prancer! Los Dasher und Cupid. Los Rudolf und
Dancer. Los Comet und Blitz! Los Keks!“