Der Weg der Buchstaben
Oh.
Wo bin ich hier? Dieser Ort kommt mir eigenartig bekannt vor. Ach Ja!
Stimmt. Ich wohne ja hier. Aber aus dieser Perspektive erscheint mir
alles so anders. So seht ihr Menschen, also die Welt.
Irre, und ich sehe jetzt auch aus wie ihr. Aber eigentlich bin ich ein
Buchstabe. Welcher? Ich glaube ein kleines L. Allerdings wurde ich
auch schon ein paar Mal als großes I gelesen. Das hat mich ganz
stolz gemacht. Ist es doch der Traum eines jeden Buchstaben, einmal
groß zu sein.
Ich komme aus einem Buch. Natürlich, woher denn auch sonst? Um genau zu sein, aus diesem. Seht ihr? Da fehlt einer!
Hier feh t ein L!
126
Habt ihr euch noch nie gefragt, wohin die fehlenden Buchstaben
verschwinden?
Einige gehen flöten und machen dann ganz tolle
Musik. Andere besuchen ihre Verwandten. Man erkennt sie daran, dass
sie irgendwie nicht so richtig dahin zu passen scheinen. Und dann
gibt es da noch so ein paar, die machen das wie ich, die sind
einfach: hier.
Wie ich aus dem Buch kam, ist eine kurze Geschichte. Ich wurde gelesen,
ward im Kopf verstanden, ging in das Herz, vertrieb den Schmerz. Da
sprach mich Leserin aus und nun steh ich hier in diesem Haus.
Wo ich herkam, das ist schon eine längere Geschichte.
Es
fing alles mit einer kleinen Idee an, die sich auf irgendwelchen
verschlungenen Wegen in den Kopf meiner Schreiberin geschummelt
hatte. Ich glaube, es war der kleine Augenblick, in dem eine alte
Erinnerung auf einen ganz neuen Moment traf. Die beiden sagten sich
guten Tag, schüttelten sich die Hände und in diesem
Augenblick sprang einfach so, aus dem mir nichts – dir nichts,
die Fantasie dazwischen.
Während
die alte Erinnerung und der neue Moment die verrückte Fantasie
sparsam anschauten, gelang es der kleinen Idee, unbemerkt unter ihnen
hindurch zu schlüpfen.
Die
kleine Idee musste ganz schön gestaunt haben. Bestimmt stand sie
erst einmal eine geschlagene Viertelsekunde in der großen
Eingangshalle des Kopfes meiner Schreiberin. Vom Boden bis zur hohen
Decke stapelten sich Schränke und Regale. In der Mitte standen
keine Kisten, die war sie gewöhnt, sondern ganze Container.
Darin
befanden sich hunderte Ideen, die kreuz und quer gestapelt darauf
warteten, herausgeholt zu werden. Beinahe wäre sie dort
hineingegangen und hätte sicherlich lange Zeit darauf gewartet,
herausgeholt zu werden. Doch im letzten Augenblick wurde sie von der
Fantasie gefunden, die ihr einen kräftigen Schubs gab, weg von
den Abstellplätzen hin zu den Schränken. Diese
hatten wie üblich ein paar große Schubladen, in die brav
säuberlich Erlebnisse, Dinge, Tiere und Menschen einsortiert
worden waren.
Doch
wie das in einem vernünftigen Kopf ist, enthielten die größeren
Schubladen jeweils einige von mittlerem Ausmaß. Jede von diesen
setzte sich wiederum aus kleinen Schubladen zusammen. Zog man eine
große Schublade heraus, konnte man auf alles in allen mittleren
und kleinen Schubladen zugreifen. In den mittleren Schubladen,
konnte man auf die Kleinen zugreifen. Hin und wieder passierte es auch, dass etwas aus
der großen Schublade, die ja alles aus allen anderen mittleren
und kleinen Schubladen enthielt, in eine kleine Schublade rutschte.
Soweit
alles easy und normal. Die kleine Idee hatte auch schon ganz andere
Köpfe gesehen. In einigen gab es noch Mikro-Schubladen. In diese
hatte sie nicht hineingepasst, schließlich war sie eine kleine,
aber umfassende Idee.
In
anderen Köpfen hatte Sie sich nicht wohlgefühlt, weil es dort
viel zu dunkel war.
Die Schubladen waren abgeschlossen und wurden nur geöffnet, um
etwas hinein zu pressen oder heraus zu fischen.
Im
Kopf meiner Schreiberin war alles ein bisschen anders. Erstens waren
die Schubladen hier bunt. Zweitens spannten sich zwischen ihnen
Fäden in allen Farben der Welt.
Diese
führten
durch kleine Löcher in in die Schubladen hinein. Die Fäden
vibrierten ständig ein wenig. Dort wo sich in anderen Köpfen
der Griff zum Aufziehen der Schubladen befand, zeigte sich hier
einfach eine Öffnung. Diese bot nicht nur eine Möglichkeit
den Kasten
zu öffnen, sie gestattete es den Bewohnern auch, einen Blick
hinaus zu riskieren.
Die
kleine Idee stand so eine Weile da und beobachtete das rege Treiben
von inventarisierten Dingen, die in schnellem Tempo herausgenommen,
untersucht, teilweise kopiert und wieder hineingepackt wurden. Wäre
nicht zufälligerweise die Neugierde, die gerade einen
abendlichen Spaziergang am Wissensstrand entlang machte,
vorbeigekommen, so hätte die Idee bestimmt so lange dort
gestanden, bis sie durch das Licht der Scheinwerfer langsam aber
sicher verblasst wäre.
Die
Neugierde nahm die kleine Idee mit zum Herrn Erfahrung, der den
Neuankömmlingen ihre Schublade zuwies. Schon bald befand sie
sich in ihrem neuen Zuhause. Nachdem sie
sich mit den anderen Schubladenbewohnern bekannt gemacht hatte,
schaute sie durch die Grifföffnung hinaus.
Jetzt
erkannte sie, warum die Fäden und die Schubladen bunt waren. Mit
Hilfe der Farbe konnte sie sich orientieren, wusste nun welcher Faden
zu welchem Kasten gehörte. Außerdem dienten die Fäden
zur Kommunikation. Von da an gab es für die kleine Idee kein
Halten mehr. Sie telefonierte über die Fädentelefone mit
den Bewohnern der anderen Schubladen und wuchs und wuchs. Schließlich
war sie keine kleine Idee mehr, sondern eine große.
Damit
war es für sie an der Zeit, die Schublade zu verlassen. Noch
war ihr das Ziel nicht ganz klar. Bei den Ohren machte sie kurz halt
und als sie eine schöne Musik von draußen hörte,
überlegte sie, selbst zu einer Musik zu werden. Doch als sie an
den Augen vorbeikam und ein leeres Blatt vor sich sah, wusste sie,
wohin sie gehörte. Die Hände boten mit Freude und
Eifer ihre Unterstützung an. Nach einigen Worten jedoch
zögerte die Idee und ging zurück zur großen
Halle.
Während sie dort mit ihren Freunden redete und spielte, wuchs
sie weiter und veränderte sich. Irgendwann kehrte sie
zurück zu den Händen, die nun bereits geschriebene
Buchstaben umsiedeln mussten. Als diese an ihrem neuen Platz ankamen,
sahen sie, warum und es ward gut so. Manchmal waren es nur kleine
Änderungen, manchmal mussten ganze Kapitel weichen.
Und
so entstand auch ich. Der kleine Buchstabe L auf Seite 126.
Meint
ihr, damit sei meine Geschichte an ihrem Ende? Weit gefehlt! Erst
einmal war ich nur ein Buchstabe unter vielen auf einem Gerät,
auf dem sich noch Millionen anderer Zeichen befanden. Wir tummelten
uns dort, waren froh, dass wir komplett waren und dennoch:
Irgendetwas fehlte uns.
Keiner von uns vermochte zu sagen, was es war. Uns
fehlte einfach die Erfahrung. Tage vergingen, Wochen und Monate
gesellten sich dazu.
Ich
erinnerte mich an die Erzählungen von
den dunklen,
abgeschotteten Schubladen. Nun war es um
uns ebenso
dunkel. Nur
hin und wieder wurde es hell. Wenn ich
in die Augen unserer Schreiberin
blickte,
entdeckte ich Zweifel und Mutlosigkeit, aber auch einen Funken
Hoffnung.
Ich
stieß meine Kameraden an und wir alle winkten, zappelten und
machten so viel Krach, wie man es als Buchstabe nur vermag.
Schließlich hatten wir
ihre Aufmerksamkeit. Und dann tat sie es. Sie drückte auf den
Knopf, der uns das erste Mal auf Papier fallen ließ. Man, das
war ein Gefühl sage ich euch! Unbeschreiblich!
Zunächst
noch eine Folge Nullen und Einsen, dann eine Sequenz von Strom an
- Strom aus und im nächsten Moment
schon von oben bis unten pechschwarz und durchgeschwitzt. Ich und die
anderen krallten uns am Papier fest, wir wussten ja nicht, was uns
erwarten würde. Zum Glück waren wir schon wieder trocken,
als das nächste Blatt auf uns stürzte.
Dann?
Stille! Dunkelheit! Ungewissheit.
Ein
paar Tage später erblickte ich wieder das Licht der Welt. Eine
Freundin meiner Autorin sah mich sehr genau an. Ich war einer von
jenen, die
ihre
Verwandten besuchten.
So bekam ich selbst noch Besuch, ein Strich in der Landschaft wurde
mir beiseitegestellt.
Ich
dachte, ich müsste etwas ganz Besonderes sein, um eine derartige
Ehre zu erhalten. Damit lag ich natürlich falsch. Ich war nur
einer von vielen, Nicht mehr oder weniger wichtig, als all die
anderen.
Der
Rest meiner Geschichte ist schnell erzählt:
Ich
wurde zwei Dutzend Male auf Papier gebannt und quer durch das ganze
Land geschickt. Ich sah viele Schreibtische, aber fast genauso viele
Papierkörbe.
Irgendwann
fand jemand das Niedergeschriebene meiner Autorin gut und so wurden
wir hunderte Male mit einer riesigen Maschine auf Tausende Seiten
gebannt.
Und
nun stehe ich hier und frage euch: Was gibt es schöneres, als
ein Buchstabe in einem Buch zu sein?